Fotostories im Chemielabor: Ein Beitrag zum gendersensiblen Unterricht

Katrin Bölsterli Bardy ist Dozentin für Naturwissenschaften und ihrer Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern und leitet gemeinsam mit Gilbert Stalder die Chemiemodule in der Ausbildung der Sekundarlehrpersonen. Sie gibt uns einen Einblick in eine spannende und abwechslungsreiche Methode, Laborprotokolle einmal anders zu gestalten: Ihre Studierenden haben Fotostories über Experimente im Chemielabor erstellt und damit nicht nur das Experiment protokolliert, sondern auch wie das Laborieren selbst ergangen ist und was sie dabei erlebt und gedacht haben. Warum Fotostories zu einem gendersensiblen Unterricht beitragen können, erfahren Sie im Interview mit Katrin.

Katrin, vielen Dank, dass du dir für dieses Interview Zeit nimmst. Kannst du uns kurz erklären, was Fotostories genau sind?

Eine Fotostory ist im Gegensatz zum Laborprotokoll eine Dokumentation eines Experiments, die im Comic-Stil angefertigt wird. Personen, die am Laborieren sind, werden in einem Panel (sprich einem Kästchen im Comic) dargestellt. Die Personen kommentieren anhand von Sprech- und Denkblasen. Auch die Labormaterialien und die Chemikalien werden abgebildet oder gezeichnet. Unter jedem Panel können Kommentare angefügt werden, die die dargestellte Situation zusätzlich erklären. Wie viele Panels erstellt werden, ist den Studierenden respektive den Schüler*innen überlassen. Wichtig ist, dass alle Schritte, die auch in einem normalen Laborprotokoll vorkommen, wie zum Beispiel die Fragestellung, die Vermutungen, die Durchführung, die Beobachtung und Erklärung in der Fotostory abgedeckt sind. Zusätzlich können persönliche Kommentare zur Durchführung oder zum Experiment gemacht werden.

 

Wieso habt ihr euch entschieden, Fotostories in einem Chemie-Modul einzusetzen?

Ich bin damals im Verlauf meiner Doktorarbeit auf einer Tagung auf die Fotostories gestossen. Ich fand diese eine clevere Alternative zu den gewöhnlichen Laborjournalen, insbesondere, weil bei meinen Schüler*innen und auch in meiner eigenen Schulzeit Laborjournale nicht wirklich beliebt waren. Da dachte ich mir, das probieren wir einmal aus.

 

Wie haben die Studierenden auf die Fotostories reagiert?

Sie fanden die Fotostories sehr spannend. Bis anhin haben wir die Studierenden im Modul immer Phänomen- und Tätigkeitsprotokolle über einen von ihnen ausgewählten Versuch schreiben lassen. Jetzt wollten wir die Fotostories einbauen und die Studierenden waren tatsächlich sehr motiviert, diese Art von Protokoll zu gestalten. Spannend war auch, dass die Studentinnen sich häufiger ans Zeichnen und Malen gemacht haben, wohingegen bei den Studenten mehr fotografiert und mit dem Computer gearbeitet wurde.

 

Habt ihr mit den Studierenden auch über die didaktischen Vorteile von Fotostories für den Unterricht auf der Sekundarstufe gesprochen?

Wir haben mit den Studierenden darüber gesprochen, dass Fotostories im Chemieunterricht für die Sekundarstufe sehr geeignet sind. Mit solchen Protokollen können auch Schüler*innen abgeholt werden, die mit der Sprache Mühe haben. Diese Kinder können sich besser durch Bilder in Form von Fotografien oder Zeichnungen ausdrücken. Somit ist beim Erstellen von Laborprotokollen eine Differenzierung möglich: Man kann mehr oder weniger Zeit für das Zeichnen oder für die Aufarbeitung des Inhalts einplanen. Wir haben auch den Vergleich der Fotostory-Protokolle mit den Fotostories aus der Zeitschrift «Bravo» gezogen. Dass diese vielen Schüler*innen auf der Sekundarstufe bekannt sind, könnte ebenfalls zur Motivation, ein solches Protokoll zu gestalten, beitragen. Wir hatten auch Studierende, die den Text zu den Fotos in Reimform geschrieben haben oder Witze einbauten, was vermuten lässt, dass auch die Schüler*innen auf der Zielstufe ihre Kreativität bei Fotostories besser einsetzen können als bei herkömmlichen Laborberichten.

 

Kann auch die Lehrperson bzw. die Dozent*in von den Fotostories im Chemieunterricht profitieren?

Als Lehrperson sieht man durch die Darstellungen in den Fotostories, wer beim Experimentieren was gemacht hat. Es lässt sich so unter anderem bei Gruppenarbeiten beurteilen, ob beispielsweise immer die Jungs die Laborgeräte bedient haben, am Pipettieren oder Abmessen waren oder ob dies auch die Mädchen taten. Auch weitere Rollen werden für die Lehrpersonen sichtbar. Wer äussert die Hypothese, wer beobachtet und wer erklärt das Experiment am Ende. Für die Lehrpersonen geben die Fotostories somit Zusatzinformationen, gerade in Bezug auf den gendersensiblen Unterricht. Den Schüler*innen ist die Rollenverteilung im Labor oft nicht bewusst. Gerade beim Zeichnen oder Gestalten der Fotostories kommt diese aber zum Vorschein, was den Lehrpersonen wertvolle Informationen und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die Lehrperson sieht anhand der Fotostories auch sehr genau, was die Lernenden verstanden haben und was nicht, welche Präkonzepte vorliegen, ob korrekt laboriert wurde (z.B. Aufbau der Apparaturen) und häufig auch, ob die Schülerinnen und Schüler das Experiment interessant, respektive motivierend fanden oder nicht. Sie kann dadurch individuell auf Schwierigkeiten eingehen und ihren Unterricht anpassen, respektive überarbeiten.

 

Du sprichst den gendersensiblen Unterricht an. Warum sind deiner Meinung nach Fotostories ein Beitrag für gendersensiblen (Chemie-)Unterricht?

Die Fotostories leisten auf mehreren Ebenen einen Beitrag an einen gendersensiblen Unterricht. Zum einen ist da das Zeichnen oder Fotografieren, was einen kreativen Prozess auslöst. Dies gefällt wahrscheinlich im Durchschnitt eher den Mädchen. Aber auch für Jungs, die vielleicht im Durchschnitt weniger gerne zeichnen, bieten die Fotostories etwas: Sie können mit dem Computer arbeiten und werden so ebenfalls bei Ihren Interessen abgeholt. Generell bieten Fotostories einen grösseren Spielraum, wie sich Laborprotokolle gestalten lassen. Und somit wird den Interessen aller Geschlechter besser gerecht.

Weiter können Emotionen in das Protokoll miteinfliessen. Sollte eine Schülerin oder ein Schüler irgendwo beim Experimentieren nicht weitergekommen sein, so lässt sich beispielsweise auch dieser Ärger in der Fotostory darstellen. Wie schon angesprochen hat dies Vorteile für die Lehrperson. Sie kann viel besser auf die Erfahrungen ihrer Schüler*innen reagieren und den Unterricht so gestalten, dass alle, Mädchen und Jungs, gleichermassen teilnehmen können.

 

Markus Prechtl, der einige Beiträge zum Thema Fotostories publiziert hat, schreibt, dass eine Fotostory den Schüler*innen bzw. den Studierenden "die Möglichkeit bietet, ihre ganz individuellen, emotionalen Erfahrungen und Sichtweisen vom Ablauf eines Experiments […]" einzubringen. Welche Bedeutung haben die Emotionen und das Verhalten der Schüler*innen bzw. Studierenden in einem gendersensiblen Unterricht?

Allgemein haben Emotionen im gendersensiblen Unterricht eine wichtige Bedeutung. Je mehr man in der Chemie im Labor arbeitet, desto wichtiger ist dieser Aspekt, da im Chemielabor immer auch Zwischengespräche möglich sind. Ähnlich wie im Sportunterricht kann beim Laborieren viel Persönliches ausgetauscht werden. Auch wenn jemand völlig überfordert ist, merkt dies die Lehrperson schneller als bei anderen Unterrichtsformen und kann helfen. Wenn man Chemieunterricht im Labor durchführt, haben Schüler*innen automatisch emotionale Erfahrungen, sei es der erstaunte Aufruf beim Auftreten etwas Unerwartetem, die Angst vor einem Feuer oder Knall oder die Freude am Gelingen eines Versuches. Um den Schüler*innen im gendersensiblen Unterricht gerecht zu werden, gilt es somit, diese Emotionen wahrzunehmen, ernst zu nehmen und adäquat darauf zu reagieren. Werden im Chemieunterricht die Experimente in Kontexte gebettet, die an die Alltagserfahrungen und Emotionen der Schüler*innen anknüpfen, können auch auf der Inhaltsebene Emotionen der Lernenden geweckt werden. Dies erhöht die Relevanz des Themas für die Lernenden und der Unterricht wird noch lebendiger. Das ist auch das Schöne am Chemieunterricht.

 

Was habt ihr als Dozierende über das Vorgehen und die Interaktionen der Studierenden beim Experimentieren durch die Fotostories erfahren?

Der Unterschied zum normalen Laborprotokoll war sicher gross. Gewisse Emotionen der Studierenden wie Unsicherheiten aber auch Begeisterungen über das Laborieren oder die Freude am Experimentieren oder der Stolz darüber etwas dazugelernt zu haben, haben wir durch die Fotostories besser mitbekommen als durch das übliche Beobachten während des Laborierens und vor allem besser als durch herkömmliche Laborberichte. Auch Präkonzepte wurden evident.

Unsere Daten basieren auf sehr wenigen Fotostories und dürfen somit nicht verallgemeinert werden. Wir beobachteten aber einige Aspekte, die spannend sind in Bezug auf einen gendersensiblen Unterricht. Zusammengefasst können wir zum Beispiel sagen, dass bei einer geschlechtsgemischten Gruppe die Rollenverteilung gut sichtbar war. Die Studentin war um das genaue Durchführen besorgt und der Student lieferte die Erklärung, obwohl die Studentin die richtige Anfangshypothese hatte und der Student die falsche. In einer anderen Fotostory von zwei Studenten wurde evident, dass sie sich die Mühe am Anfang nicht nahmen, lange nach einer Vermutung zu suchen, sondern direkt starteten. Am Ende waren sie dann trotzdem überrascht über den Ausgang des Experiments. Weiter waren die Zeichnungen der Studentinnen häufig detailreicher (z.B. zeichnen der Laborbrille) während bei einer Zeichnung einer reinen Studentengruppe nicht einmal das Geschlecht der Personen erkennbar war. Emotionen wurden erfreulicherweise sowohl von Studentengruppen als auch Studentinnengruppen erwähnt. Beispiele sind: «Ich hoffe wirklich, es explodiert nichts!», «Toll wir machen ein Experiment!» oder «Begeistert zündet die Studentin das Feuer!». Spannend bei einer Studentinnengruppe ist, dass sie sich selbst im Plural als «Studenten» betiteln, im Singular als «Studentin». Weiter ist erkennbar, dass tendenziell bei reinen Studentinnengruppen die Erklärung im bilateralen Gespräch gefunden wird, während bei reinen Studentengruppen einer dem anderen die Erklärung liefert.

 

Seid ihr zufrieden mit der Umsetzung? Behaltet ihr die Methode bei oder macht ihr Anpassungen?

Wir waren von der grossen Motivation der Studierenden, eine Fotostory zu gestalten, positiv überrascht. Sie haben sich ins Zeug gelegt und zum Teil auch zuhause noch daran weitergearbeitet. Es kam ein Enthusiasmus auf, den man sonst beim Erstellen von Laborprotokollen nur selten beobachten kann. Wir wollen auch in Zukunft Versuche mittels Fotostories protokollieren lassen.

Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Das zeigt uns auch, dass ein kreativer Anteil beim Protokollieren mitspielt. Es sind aber alle Fotostories in sich gut herausgekommen, die Umsetzungen an sich waren einfach sehr unterschiedlich. Vorerst sind keine Anpassungen geplant, da wir mit dem ersten Durchgang sehr zufrieden sind. Wir haben den Studierenden ursprünglich auch die Wahl gelassen, ob sie ein klassisches Protokoll oder eine Fotostory umsetzen möchten. Für das Laborprotokoll hat sich bei diesem Experiment niemand entschieden.

 

Sind deiner Meinung nach Fotostories in der Biologie und in der Physik auch umsetzbar?

Ich denke, wenn in der Physik zum Beispiel Experimente zu elektrischen Schaltungen durchgeführt werden, sind Fotostories als Alternative zum normalen Protokoll analog nutzbar. Oder auch in der Biologie, sofern die Experimente nicht Monate dauern, wie dies zum Teil bei Pflanzenexperimenten der Fall ist, sind Fotostories wie im Chemielabor gut möglich.

 

Vielen Dank, Katrin, für die spannenden Einblicke.

 

Das Interview wurde von Daniel Gysin über Zoom durchgeführt und danach verschriftlicht.

Weiterführende Literatur und Links zum Thema Fotostories:

  • Prechtl, M. (2007). «Chemie-Foto-Story». Ein Methodenwerkzeug auf dem Weg. In: chim. etc. did. 33 (100), S. 109-127.
  • «Foto-Story»-Beispiele und das Skript aus dem Chemiemodul der PH Luzern (Abschnitt zu den «Foto-Stories») finden Sie hier.

 

Zum Profil von Katrin Bölsterli-Bardy geht es hier.